Kreis erforscht Nazi-Morde an behinderten und psychisch kranken Menschen

Wie viele Opfer der NS-„Euthanasie“ gab es im Gebiet des heutigen Bodenseekreises und was wissen wir eigentlich über das Schicksal dieser Menschen? Diesen Fragen widmet sich das Landratsamt in einem Forschungs- und Erinnerungsprojekt. Gemeinsam mit dem in der Region bekannten Forscher und Experten Professor Paul-Otto Schmidt-Michel ruft Landrat Lothar Wölfle die Menschen im Bodenseekreis auf, sich diesem Kapitel der Heimatgeschichte zuzuwenden: „Derzeit sind die Namen von 90 Personen bekannt, die in den Städten und Gemeinden des heutigen Bodenseekreises gelebt haben und die systematisch von den Nazis umgebracht worden sind, weil sie eine körperliche oder geistige Behinderung hatten oder weil sie psychisch krank waren“, sagt Lothar Wölfle. „Allerdings weiß man nur sehr wenig darüber, was diesen Menschen wiederfahren ist und es gibt vermutlich noch weitere, bisher nicht bekannte Opfer“, so der Landrat weiter. Mit dem Projekt „Gedenkbuch für die Opfer der NS-‚Euthanasie‘ im Bodenseekreis“ wolle man mehr Klarheit über dieses Thema gewinnen und damit auch den Betroffenen ein würdiges Andenken schaffen.

Auf www.bodenseekreis.de/bildung-kultur/gedenkbuch-ns-euthanasie/ sind dazu alle bislang erforschten Namen der Opfer und, soweit bekannt, deren Schicksalsgeschichten öffentlich aufgelistet. Die Auflistung der Namen solle deutlich machen, dass es hier nicht bloß um Zahlen oder Fälle geht, sondern um Menschen, so die Projektverantwortlichen. Mit einem Sternchen sind all die Namen gekennzeichnet, bei denen die Opfer-Geschichten bekannt sind. So können die Besucher der Website einen sehr persönlichen Eindruck davon bekommen, was sich vor 70 Jahren auch in der Bodenseeregion zugetragen hat.

„Die sogenannte Euthanasie der Nazis war ein fürchterliches Verbrechen. Die behinderten und kranken Menschen wurden systematisch mit den grauen Bussen aus den Kliniken und Anstalten abgeholt und zu den Tötungsorten gebracht“, erklärt Psychiater Professor Paul-Otto Schmidt-Michel, der seit vier Jahren die Geschichte der NS-„Euthanasie“ in der Bodenseeregion erforscht. „Die Meisten der uns heute bekannten Opfer lebten zunächst in den damaligen Anstalten Liebenau, Reichenau und Weissenau, bevor sie in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht worden sind. Mit dem Gedenkbuch-Projekt wollen wir mehr über diese Menschen erfahren“, so der engagierte Forscher weiter. Daraus sollen eine möglichst vollständige Opfer-Datei und ein Buch entstehen, um den bisher meist anonymen Opfern einen Namen zu geben, wenn möglich ihre Geschichten zu erzählen und die Erinnerung an sie in ihren Heimatgemeinden zu verorten. „Was auch hier in der Bodenseeregion geschehen ist, soll kein Tabu sein. Das sind wir den Opfern und kommenden Generationen schuldig“, betont dazu der Landrat.
 
Auf der Website des Landkreises ist der aktuelle Forschungsstand nachzulesen. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Bodenseekreises sind nun aufgerufen, sich diesem Thema aktiv zuzuwenden:
• Ist Ihnen jemand von der Opfer-Liste bekannt?
• Haben Sie Informationen über das Leben und Schicksal dieser Menschen?
• Waren Personen aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis Ihrer Familie von der „Aktion T4“ betroffen?
• Suchen Sie selbst nach solchen Informationen über das Schicksal von Personen aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis Ihrer Familie?

Wer hierzu etwas weiß oder selbst wissen möchte, kann sich an das Kulturamt des Bodenseekreises oder Forschungsleiter Schmidt-Michel wenden. „Private Dokumente oder Bilder können einen wertvollen Beitrag leisten, dass wir und die künftigen Generationen ein möglichst genaues Bild dieses schlimmen Teils unser aller Vergangenheit bekommen“, sagt Dr. Stefan Feucht, Leiter des Kulturamts Bodenseekreis, bei dem das Forschungs- und Erinnerungsprojekt koordiniert wird. Auch für diejenigen, die selbst auf der Suche nach Informationen und Antworten über das Schicksal ihrer von der NS-„Euthanasie“ betroffenen Familienangehörigen sind, können sich an die Forscher wenden.

Während der nationalsozialistischen Herrschaft sind allein im damaligen Deutschen Reich circa 300.000 behinderte und psychisch kranke Menschen systematisch deportiert und umgebracht worden. Nach derzeitigem Forschungsstand hat alleine die oft auch als „Euthanasie“ bezeichnete „Aktion T4“ schätzungsweise 70.000 Menschen das Leben gekostet. Die „grauen Busse“, mit denen die Menschen in der Regel aus den Anstalten abgeholt worden sind, gelten heute als Symbol für diese planmäßig durchgeführten Verbrechen.

www.bodenseekreis.de/bildung-kultur/gedenkbuch-ns-euthanasie/

Dr. Stefan Feucht
Tel.: 07541 204-6400
kreiskulturamt@bodenseekreis.de 

Prof. Dr. Paul-Otto Schmidt-Michel
Tel.: 0171 3390302
schmidtmichel@gmx.de

Bildinfo: Dr. Stefan Feucht vom Kulturamt, Landrat Lothar Wölfle und der Forscher Professor Paul-Otto Schmidt-Michel wollen mehr Licht in das Kapitel der sogenannten „Euthanasie“ in der Bodenseeregion bringen. Auf einer Website kann jeder nachlesen, was damals den Opfern widerfahren ist.
Foto: Landratsamt Bodenseekreis